Lisa Stybor

 
 
Der Savignyplatz ist eine der schönsten Gegenden in Berlin, mit grünen Alleen und weißen, alten Häusern. In einem dieser Häuser lebt Lisa M. Stybor. Seit dreißig Jahren ist sie als bildende Künstlerin tätig und unterrichtet bildnerisches Gestalten an der Hochschule Anhalt in Dessau. Neben der Kunst hat sie eine zweite Leidenschaft: das Sammeln von Fossilien, die eine ganze Wand in ihrer Wohnung für sich beanspruchen. Fossilien faszinieren sie, weil sie die Geschichte „konservieren“, die Vergangenheit zur Gegenwart machen. Die Geschichte ist für die Tochter von Überlebenden des Zweiten Weltkrieges besonders wichtig. Groß war ihr Erstaunen, als sie von einem armenischen Studenten das erste Mal über den Völkermord an den Armeniern erfuhr.
 
„Als ich vor etwa sieben Jahren von dem Völkermord hörte, war ich völlig perplex. Ich bin politisch nicht uninteressiert, aber von dem Völkermord an den Armeniern hatte ich noch nie etwas gehört“, erzählt Stybor. Seitdem ließ sie dieses Thema nicht mehr los; es wurde zu einem Kernstück ihrer Arbeit.
 
Sie flog noch im selben Jahr nach Jerewan und knüpfte Kontakte mit dem Contemporary Art Center. Dort machte sie die Bekanntschaft mit dem Direktor Edward Balassanian und lernte andere Armenier kennen.  
 
„Als mir bewusst wurde, dass die Deutschen dort auch eine Rolle spielten, fühlte ich mich sehr betroffen“, sagt Stybor. „Die Frage der Beteiligung, der Verantwortung, sogar der Schuld ist bedauerlicherweise immer noch nicht geklärt. Über den Zweiten Weltkrieg ist viel geschrieben und gesagt worden, nicht aber über den Ersten Weltkrieg. Ich wollte unbedingt zu diesem Thema einen Beitrag leisten.“ 
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Sie überlegte lange, wie sie die Massaker zum Gegenstand ihrer Kunst machen könne. „Als sich der 100. Gedenktag des Völkermordes an den Armeniern näherte, wusste ich, das ist der Zeitpunkt, aktiv zu werden.“ Jahrelang trug sie die Bilder der Toten, das Morden der Osmanen mit sich herum, bis sie wusste, wie sie ihre Emotionen und die schrecklichen Fakten in Materie umwandeln konnte. Im Jahr 2014 flog sie nach Anatolien und folgte den Spuren der armenischen Deportierten. Sechs Wochen lang hielt sie Orte, die heute an den Völkermord vor 100 Jahren erinnern, auf grobkörnigem Papier als Abdruck fest.
 
Mal waren es zerstörte Stadtmauern, mal gepflasterte Wege oder Teile einer Fassade. „Man hat sehr wenig von den armenischen Städten und Kirchen übrig gelassen.“
 
Die Reise war körperlich als auch psychisch derart anstrengend, dass sie letztlich nach sechs Wochen erkrankte und zurückfliegen musste. „Die ganze Tragik wird noch präsenter, wenn man vor Ort ist; es belastet einen sehr.“
Die Reiseroute verlief durch die ganze Türkei. Sie besuchte viele ehemals armenische Städte, darunter Mardin, Gaziantep, Erzurum, Sanliurfa, Adana und Samsun.

Die Arbeiten wurden vor kurzem in der evangelischen Stadtakademie in Bochum ausgestellt. „Ich würde mich freuen, wenn auch das Armenische Genozid-Museum-Institut in Jerewan Interesse an der Ausstellung hat“, sagt sie hoffnungsvoll und zeigt auf die Bilder, die man ihr schonend verpackt aus Bochum zurückgebracht hat. 
 
Aufgrund des Platzmangels in ihrer Wohnung bewahrt sie die Bilder in mehreren Reihen an die Wand gelehnt auf. Daneben hängt ein großes Bild, auf dem die Farbe Rot dominiert. Es wirkt sehr bewegt und erinnert an eine Wiese. Man merkt förmlich, wie der Wind das Gras hin und her bewegt. „Vorher habe ich mit schwarzer Farbe gemalt, aber das Rot ist viel lebendiger, viel leidenschaftlicher“, kommentiert sie das Bild. „Es gehört zum vierten Teil eines umfangreichen Werkes, das ich vor vielen Jahren angefangen habe“, sagt sie. „Die Reihe über den Völkermord an den Armeniern ist ebenfalls ein Teil davon.“
 
Lisa M. Stybor beherrscht diverse Techniken der Malerei. Davon zeugen viele ihrer Bilder. Sie machen den Eindruck, als kämen sie aus der Hand verschiedener Künstler. „Eines Tages lernte ich die Literatur des portugiesischen Schriftstellers Fernando Pessoa kennen, der in mehreren Stilen schreibt. Er verwandelt sich jeweils in einen anderen Autor, nimmt eine andere Identität an. Das hat mich fasziniert“, erzählt Stybor. „Das gibt es so nicht in der Malerei. In der Malerei setzt man verschiedene Perioden hintereinander.“ Es war „dieses Parallele und Gleichzeitige“, das sie vor fünfzehn Jahren zu der Idee inspirierte, sich in ihren Bildern – entsprechend ihrem inneren Empfinden – in verschiedene Künstler zu verwandeln. Ihre Impulse schöpfte sie aus der Literatur und Musik. „Es sollte eine „Oper in vier Akten“ werden. „Oper heißt auf Italienisch „Opera“ und wird auch als „Werk“ übersetzt“, sagt sie.

Für ihre „Komposition“ suchte Stybor nach passenden Themen, Medien und Zeichenstilen. Sie experimentierte und verbesserte ihre Technik, stets auf der Suche nach „einer Melodie, die gemeinsam erklingt, ein komplexeres Weltbild erschafft und wie ein einziger Organismus wirkt.“ 
Der Betrachter sollte durch die Räume geführt werden und das Gefühl haben, als würden vier verschiedene Künstler ihre Werke ausstellen.
 
Stybor greift zu einem Ordner, in dem Landschaftsbilder im DIN A4-Format zu sehen sind. Wenn man mit dem Finger darüber fährt, spürt man die dicken Striche der Farbe. Sie geben den Bildern einen dreidimensionalen Charakter, während die ungewöhnliche Darstellung der Landschaft, die hauptsächlich mit farbenreichen Linien wiedergegeben ist, etwas Gewaltiges und Unaufhaltsames vermittelt. „Das ist die erste Reihe. Sie stellt den Anfang, das Werden des Lebens dar. Die folgenden Teile handeln vom menschlichen Leid: vom Erdbeben in L’Aquila und dem Völkermord an den Armeniern.“ Von weiteren Themen über das Leid hat Stybor abgesehen. „Denn was könnte, sieht man von den Gräueltaten der Nationalsozialisten einmal ab, schlimmer sein als die brutale Ermordung unschuldiger Frauen und Kinder“, sagt sie. „1,5 Millionen Menschen kamen damals ums Leben.“
 

 
Die beiden Reihen über das Leid seien für sie Statements, in sich abgeschlossen. Die anderen zwei Reihen seien dagegen offen, man könne sie fortschreiben. „Bewusst habe ich die letzte Reihe dem Leben gewidmet, der Kraft der Bewegung, dem Unzerstörbaren. Damit zeige ich, dass das Leben stärker ist als jedwede Zerstörung. Die letzte Reihe gibt mir Kraft; sie ist für mich auch so etwas wie Trost.“
 
Das Werk, die Opera, wurde erst jetzt, 2015, durch den Zyklus zum Völkermord an den Armeniern, vervollständigt. Die ganze vierteilige Ausstellung kann von nun an gezeigt werden; es fehlen nur noch die entsprechenden Räumlichkeiten. 

 

 

Titelbild: Hatto Fischer

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Sie verewigte ein Stück Westarmenien
Author: 
Irina Lampf