Muriel Mirak-Weissbach
„Viele Einzelheiten haben wir Kinder, meine drei Brüder und ich, erst nach dem Tod unserer Eltern erfahren. Ihre Memoiren haben mich erschüttert und eine Identitätskrise hervorgerufen.“
Artemis Yeramian als junge Frau, 1926. |
Ein türkischer Schäfer fand daraufhin das schreiende Kind, das zwischen den Leichen lag, und legte es auf den Stufen einer türkischen Moschee ab. Ein Gendarm namens Omar sah das Kind und nahm es mit für seine Frau Gulnaz. Sie hatten keine Kinder. Artemis war für sie ein Geschenk Gottes. Gulnaz sorgte für sie wie ihre leibliche Mutter. „Sie hat mich sehr geliebt und ich wuchs auf und nannte sie „Ana“, was auf Türkisch „Mutter“ bedeutet. […] Ich wusste nicht, dass ich ein armenisches Kind war; sie haben es vor mir geheim gehalten“, schreibt Artemis.
Im Jahr 1917 kehrte im westlichen Teil Armeniens etwas Ruhe ein und die überlebenden Armenier kamen in ihre Häuser zurück. „Um etwas zu verdienen, arbeiteten einige dieser Frauen in türkischen Haushalten und wurden dafür mit Lebensmitteln bezahlt. So geschah es, dass eine meiner Tanten, Margret Dedekian, zusammen mit einer anderen Frau in unser Haus kam“, erzählt Artemis. Die Tante habe sie sofort erkannt und als sie das silberne Armband sah, bestätigte sich ihre Annahme. Bald danach wurde Artemis den Armenischen Verwandten zurückgegeben, wie ein Gesetz von 1917 dies vorschrieb. Sie lebte bei ihrer älteren Cousine Joovar, die 1923 mit ihr und zwei weiteren Verwandten in die USA zu ihrem Mann auswanderte.
Grundschüler des Dorfes Mashgerd. Zaven Mirakian steht in der Mitte der oberen Reihe, die Bibel in der Hand haltend. |
Zaven mit seinem Onkel Garabed, Tante Anna Mirakian und kleinem Cousin Hovsep, USA 1923. |
In Boston änderte Zaven seinen Namen in John. Er ging in die örtliche Schule, musste jedoch schon mit 16 Jahren arbeiten. Tagsüber arbeitete er in einem Bostoner Hotel, wo er Teller wusch. Gleichzeitig besuchte er eine Abendschule, um eine Ausbildung zum Automechaniker zu machen. Nach seinem Abschluss gründete er zusammen mit drei Männern eine Werkstatt. In dieser Werkstatt lernte er seine künftige Frau Artemis kennen, die für die Buchhaltung zuständig war. Sie heirateten 1932 und blieben bis zu ihrem Tod unzertrennlich. „Mein Vater wollte immer eine große Familie haben, denn er hatte sich die Erinnerungen an die Familie in Arabkir tief im Inneren bewahrt“, sagt Muriel.
Artemis mit ihren vier Kindern, 1943.
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Nach Ausbruch der Großen Depression in den USA in den 30er-Jahren brach die Werkstatt zusammen, aber nicht Johns Glaube an den Erfolg. „Mein Vater war sehr gläubig, im Sinne von tiefem Vertrauen auf Gott. Er sagte immer: ‚Wenn ich überlebt habe, dann muss das einen Sinn gehabt haben und so Gott will, dann werden sich die Dinge zum Guten wenden‘“, erinnert sich seine Tochter. Und so kam es auch. Durch die Unterstützung eines Gönners eröffneten John Mirak und seine Partner die erste eigene Reparaturwerkstatt in Arlington und bauten sie später zu einer Chevrolet-Vertretung aus, die sich noch heute an der Massachusetts Avenue 1125 befindet.
John Mirak mit dem Chevrolet Generaldirektor Lewis Warsky.
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Mit seinem Aufstieg richtetete er sein Augenmerk immer mehr auf die Wohltätigkeit. „Aus Dankbarkeit, Verwunderung und wahrscheinlich Überlebensschuld fühlte er sich verpflichtet, der Gesellschaft durch Spenden und ehrenamtliches Engagement etwas zurückzugeben“, schreibt sein Sohn Robert Mirak in seinem Buch „Genocide Survivors, Community Builders: The Family of John and Artemis Mirak“. Der Historiker studierte an Harvard und Oxford. Seine Doktorarbeit „Torn Between Two Lands: Armenians in America 1890 to World War I“ ist zu einem Standardwerk für Migrantenforscher geworden.
Autohaus Mirak-Chevrolet, 1948 |
„John Mirak vergaß seine armenischen Wurzeln nie“,
schreibt sein Sohn Robert. Seine Spenden gingen an armenische Kirchen in den USA, an das armenische Tubercular-Sanatorium im Libanon oder die National Association for Armenian Studies and Research (NAASR). 1978 wurde er mit dem renommierten armenischen Ellis Island Award ausgezeichnet und erhielt viele weitere Auszeichnungen von diversen armenischen Organisationen.
John Mirak zusammen mit dem US-Botschafter Momjian, beide erhielten den Ellis Island Award für Ihr herausragendes soziales Engagement, 1978 |
Heute führen seine Kinder Robert und Muriel Mirak sein Anliegen fort. Vor kurzem hat die Mirak-Stiftung 300.000 Dollar an eine Schule in Armenien gespendet. „Wir haben unsere Territorien im geopolitischen Spiel der Großmächte verloren. Denjenigen, die sagen: ‚Wir haben keine Heimat. Wir wollen die Provinzen aus Anatolien zurück‘, sage ich: Das ist illusorisch. Das Land ist da. Wir haben wieder eine Nation, ein offiziell souveränes Land und dieses Land gilt es aufzubauen. Lasst uns versuchen, die Zukunft des Landes, vor allem der jungen Generation, zu sichern und zu unterstützen“, so Muriel.
Die Geschichte wurde vom Forschungsteam der Initiative 100 LIVES verifiziert.