Aghavni, © Valérie Toranians Privatsammlung
Das Leben als Außenseiterin
Wie viele andere Kinder dieser Generation mit einem französischen und einem armenischen Elternteil durchlebten Valérie, ihre Schwester und ihr Bruder die Höhen und Tiefen eines Lebens als Außenseiter. Ihre Mutter Françoise war eine schöne Frau aus der Normandie mit einem gallischen Namen, die auch noch blond und Französischlehrerin war. Im Gegensatz dazu war ihre Großmutter Armenierin, und „alles Armenische war mit dieser unbeschreiblichen Tragödie verbunden.“ Ein Aufeinanderprallen der Kulturen war unvermeidlich. Aghavni strickte ihrer Enkeltochter regelmäßig Röcke, die kein Mädchen ihres Alters tragen würde. Liebesfilme und Romantik im Fernsehen, das gab es bei der strengen Großmutter nicht, sehr zum Missfallen Valéries. Anstand und Sitte waren aus einem armenischen Haushalt nicht wegzudenken.
Valéries Vater blieb lange Zeit seiner Herkunft verhaftet, bevor er sich schließlich der armenisch-katholischen Kirche widmete und nebenbei den berühmten Yan’s Club in Paris mitbegründete. Unterdessen kümmerte sich Aghavni darum, den Enkelkindern ihr armenisches Erbe näher zu bringen. Woche für Woche besuchte sie mit ihnen Armenischkurse in der Rue Bleue, was Valérie zu Tode langweilte.
Ein langsames Erwachen
Es brauchte seine Zeit, bis in Valérie der armenische Geist erwachte. Alles begann bei den Pfadfindern: Als Jugendliche trat Valérie den „Hayeri“ unter Leitung von Dr. Mezadurian bei. Später war es das ewige Gedenken an den 24. April: Jedes Jahr bestand der Vater darauf, mit der ganzen Familie den Gedenkfeierlichkeiten zum Völkermord an den Armeniern beizuwohnen.
Valérie erinnert sich an diesen feierlichen Tag, als sei es das „Begräbnis eines alten Onkels“. Man schickte sie unter einem Vorwand nicht zur Schule, sodass sie heimlich „an diesem Tag dem Völkermord an den Armeniern gedenken konnte“. Tatsächlich war Valérie eifersüchtig auf ihre jüdischen Freunde und verglich sich ständig mit ihnen: „Ich wollte Jüdin sein, denn als Armenierin bekam ich nicht dieselbe Anerkennung.“
Dann kamen die 70er-Jahre. Nach den dramatischen Ereignissen vom Mai 1968 verbreiteten sich linke Ideale an den Schulen. „Jeder war politisiert! Es gab alle möglichen Gruppierungen: die Maoisten, Zionisten, Trotzkisten, usw.“ Valéries Interesse am armenischen Erbe erwachte natürlich, als sie sich in diesen Jahren politisch ausprobierte. All die jungen armenischen Aktivisten waren der krasse Gegensatz zur älteren Generation, deren Leben verkümmerte zu einer Hülle von Erinnerungen bestehend aus Leid und Ungerechtigkeit. „Jetzt waren wir keine Opfer mehr! Wir konnten sogar drohen, Angst einjagen“, erinnert sie sich. Sie schloss sich einer Kameradschaft an, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, eine Zeitung namens Libération Arménienne herauszubringen. Dort lernte sie ihren zukünftigen Ehemann Ara Toranian kennen, einen jungen Aktivisten, der zu Beginn der 80er-Jahre bereits eine Schlüsselfigur in der armenischen Gemeinde war.
Das nächste Projekt war Hay Bakar, der armenische Kampf, die offizielle Zeitung der armenischen Nationalbewegung. Während ihrer Zeit tief in der gärenden politischen Szene verbesserte sie ihr Armenisch, war an der Herausgabe verschiedener Zeitungen beteiligt und heiratete im Alter von vierundzwanzig Jahren. Nach der Geburt ihres ersten Sohnes mit Namen Vasken zog sie sich allmählich aus der aktiven Szene zurück. Sie arbeitete nun für eine Reihe französischer Zeitschriften, doch ihre freiberufliche Tätigkeit für ELLE hielt sie nicht davon ab, sich wieder mit dem Thema Armenien auseinanderzusetzen: Gemeinsam mit ihrem Ehemann Ara Toranian gründete sie das monatlich erscheinende Blatt Nouvelles d’Arménie (Neuigkeiten aus Armenien).
Valéries Büro hoch oben in dem Gebäude, in dem die Revue des Deux Mondes (zu Deutsch: Bericht aus zwei Welten) ihren Sitz hat, ist schön und warm. Auf den Regalen stehen aneinandergereiht zahlreiche Bücher, die von Armeniern handeln und 2015 erschienen sind. Bald wird sie ihr eigenes dazustellen. Valérie reiste gemeinsam mit Staatspräsident François Hollande nach Jerewan, um an den Feierlichkeiten anlässlich des einhundertsten Jahrestages teilzunehmen. Eine Reise, die sie mit ihrer verstorbenen Großmutter versöhnen sollte. Als ob sich der Kreis schließe.
Diese Geschichte wurde vom Forschungsteam der Initiative 100 LIVES verifiziert.
Coverfoto: Jean-Luc Bertini © Flammarion