Valérie Toranian

German
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Einundzwanzig Jahre nach dem Tod ihrer Großmutter tauschte Valérie Toranian, eine einflussreiche französische Feministin und Herausgeberin der Revue des Deux, eines der ältesten Magazine Europas, den Journalismus gegen die Literatur, um diese „Fremde“ wieder zum Leben zu erwecken: in einem Roman, der zu ergründen sucht, wie man das Unfassbare überleben konnte.
Weight: 
80
Story elements: 
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Einundzwanzig Jahre nach dem Tod ihrer Großmutter tauschte Valérie Toranian, eine einflussreiche französische Feministin und Herausgeberin der Revue des Deux, eines der ältesten Magazine Europas, den Journalismus gegen die Literatur, um diese „Fremde“ wieder zum Leben zu erwecken: in einem Roman, der zu ergründen sucht, wie man das Unfassbare überleben konnte.
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„Ich liebe meine Mutter und bin stolz darauf. Ich vergöttere meine Großmutter, aber ich schäme mich dafür. Sie war nicht schön genug, ganz und gar nicht ansehnlich, zu dick, zu ‚ausländisch‘, zu leicht beleidigt, zu paranoid, zu alles.“ Nur wenige Tage vor dem einhundertsten Jahrestag des Völkermords an den Armeniern am 24. April 2015 erschien Toranians Roman L’étrangère (Die Fremde).
 
Er erzählt die Geschichte eines Mädchens, das im Paris der Nachkriegsjahre zur Welt kommt. Im Zentrum der Familiengeschichte – ein armenischer Vater, der zu jung starb, eine französische Mutter, der die armenische Identität immer fremd war – steht eben dieses Mädchen, das zur Frau heranreift, hin- und hergerissen zwischen der bedingungslosen Liebe zu ihrer Mutter und Großmutter und der ausgeprägten Rationalität des Westens.  
 
Dank des ehemaligen Direktors der Zeitschrift ELLE France, dessen Gedanken zum komplizierten Erbe der Armenier sie inspirierten, konnte sie das auf den ersten Blick Unvereinbare vereinbaren: die Leidenschaft des Ostens mit der Vernunft des Westens.
 
Valéries Großmutter Aghavni kam 1898 im nordanatolischen Asmaya im Pontischen Gebirge zur Welt. Nie verblassten die schönen Erinnerungen an das Haus mit Garten, in dem sie aufwuchs: Bilder einer unschuldigen Landschaft aus der Zeit vor 1915 und dem Völkermord, der sie mit einem Schlag erwachsen werden ließ.
 
„Unsere Großmutter wohnte über uns und wir sahen sie fast jeden Tag. Ohne dass sie es bewusst gewollt hätte, gab sie vieles an uns weiter: Gefühle, die Art zu kochen, Geheimnisse. Die Art, wie sie sprach oder schwieg, die Art, wie sie zu sprechen begann mit Sätzen wie: ‚Ach, wenn du nur wüsstest!‘ Sie sprach gebrochen Französisch und vermischte dies mit Armenisch.“ Valérie lernte Armenisch erst im Alter von achtzehn Jahren.
 
Das Unbeschreibliche beschreiben
 
„Aghavni wollte nie über das sprechen, was sie während der Deportation erleiden musste.“ Sie öffnete sich erst langsam nach der Geburt von Valéries erstem Kind. Valérie brauchte einen sehr langen Atem, um sich das unvorstellbare Leid auch nur bruchstückhaft vorstellen zu können.  
 
Zwanzig Jahre zuvor hatte sie unvollständige Erlebnisberichte aus einem kleinen Notizbuch zusammengetragen. Dank der Unterstützung einiger Historiker unternahm Valérie den Versuch, das Unfassbare zu fassen: Sie rekonstruierte den von Grauen gepflasterten Weg ihrer Großmutter von der Deportation bis zur Rettung ins sichere Aleppo.  
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Das Cover von Valérie Toranians Roman. Design: Studio Flammarion.  Cover © Yolande de Kort / Trevillon Images

1915 war Aghavnis Vater Tateos Messerlian ein reicher Weber und führender Patriot in der wohlhabenden armenischen Gemeinde von Asmaya. Als seine Tochter sechzehn Jahre alt war, arrangierte er für sie eine Ehe mit einem entfernten Cousin namens Hagop Boyadjian, einem klugen und gut ausgebildeten jungen Mann, der eine auf Seidenbau spezialisierte Privatschule besucht hatte. Die Ehe war nur von kurzer Dauer: Gleich zu Beginn des Völkermords im März 1915 wurden Aghavnis Vater und Ehemann gefangen genommen und niedergemetzelt. Im Juli wurden die Frauen und Kinder zu einem Konvoi zusammengetrieben und auf einen Marsch mit unbekanntem Ziel geschickt. So begann Aghavnis Reise in die Hölle. Sie waren den Misshandlungen durch die Kurden, Türken und Tscherkessen hilflos ausgeliefert. Sie kamen, um sich die Kinder dieser völlig verzweifelten, aus ihren Dörfern vertriebenen Familien zu greifen. Aghavnis Mutter Anna starb an Erschöpfung und das Mädchen ertrug fortan das Leid an der Seite ihrer Tante und Patin Meline, die zu ihrem Schutzengel wurde. Meline mahnte sie, sich unauffällig zu verhalten, damit sie überlebe.

Aghavni machte sich mit Absicht hässlich, um sich der lüsternen Blicke zu erwehren.  

Von Asmaya bis Sari Kichla im August 1915 und Arab Punar, dem heutigen Kobane in Nordsyrien: Die Stationen auf ihrem Leidensweg führten sie schließlich bis nach Aleppo. Aghavni und Meline konnten sich retten, indem sie sich von einer Kolonne Deportierter davonschlichen. Nachdem sie im Dunkel der Nacht durch die Wälder gekrochen waren, erreichten sie einen staubigen Bahnhof. Von dort nahmen sie einen Zug nach Aleppo, wo sie schließlich auf ihren Retter trafen: Hovannes Tospat, der Onkel des jungen Waisenmädchens Mariam aus Asmaya, das sich ihnen auf dem Marsch ins Ungewisse angeschlossen hatte. Die kleine armenische Gemeinde der Stadt war bis dahin von den Deportationen verschont geblieben und überlebte dank eines Netzwerks gegenseitiger Hilfe, das von den Brüdern Mazlumian, den Besitzern des legendären Hôtel Baron, geschaffen worden war.
 
Nach dem Krieg ließ sich Aghavni in Konstantinopel nieder. Dort heiratete sie 1922 Mesrop Cuyumdjian. Er war ein junger Aktivist der Armenischen Revolutionären Föderation (Haj Heghapochakan Daschnakzutjun) und kam aus der heute in der Südtürkei liegenden Stadt Dörtyol in der historischen Landschaft Kilikien. Es war eine Zweckehe, ein Weg hinaus aus dem Land voll Tod und Kummer: Ein Weg ohne Wiederkehr, denn in ihren osmanischen Reisepässen prangte ein großer lilafarbener Stempel mit dem Vermerk „Wiedereinreiseverbot“. So kamen sie ein Jahr später in Marseille an. Dort wurde ihr einziger Sohn Vram geboren, doch die französische Hafenstadt sollte dem jungen Paar kein glückliches Zuhause werden. Aghavni versuchte ihr Möglichstes, um die Familie zusammenzuhalten, während ihr Mann seine Zeit mit Politik und Glücksspiel verbrachte. Zum Schluss war sie froh zu sehen, wie er auf der Suche nach Reichtümern Richtung Brasilien davonsegelte. Mesrop starb 1953 in São Paulo an einem Herzinfarkt ohne seine Frau und Kind noch einmal gesehen zu haben.
 

 
Mit Vram auf sich alleine gestellt versuchte Aghavni, die emotionale Leere dadurch zu füllen, dass sie sich ganz ihrem Sohn widmete, der ihr Ein und Alles war. Ihre Erwartungen wurden jedoch jäh enttäuscht an dem Tag, als Vram ihr die Frau vorstellte, die er zu heiraten gedachte, die Valéries Mutter werden sollte: Sie war keine Armenierin. Für Aghavni kam dies einem Hochverrat gleich und es vergingen Jahre, bis sie ihre Schwiegertochter akzeptierte. Erst nachdem Vram 1978 infolge eines Herzinfarkts gestorben war, kamen sich die beiden Frauen durch den Verlust näher.
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Aghavni, © Valérie Toranians Privatsammlung

Das Leben als Außenseiterin

Wie viele andere Kinder dieser Generation mit einem französischen und einem armenischen Elternteil durchlebten Valérie, ihre Schwester und ihr Bruder die Höhen und Tiefen eines Lebens als Außenseiter. Ihre Mutter Françoise war eine schöne Frau aus der Normandie mit einem gallischen Namen, die auch noch blond und Französischlehrerin war. Im Gegensatz dazu war ihre Großmutter Armenierin, und „alles Armenische war mit dieser unbeschreiblichen Tragödie verbunden.“ Ein Aufeinanderprallen der Kulturen war unvermeidlich. Aghavni strickte ihrer Enkeltochter regelmäßig Röcke, die kein Mädchen ihres Alters tragen würde. Liebesfilme und Romantik im Fernsehen, das gab es bei der strengen Großmutter nicht, sehr zum Missfallen Valéries. Anstand und Sitte waren aus einem armenischen Haushalt nicht wegzudenken.
 
Valéries Vater blieb lange Zeit seiner Herkunft verhaftet, bevor er sich schließlich der armenisch-katholischen Kirche widmete und nebenbei den berühmten Yan’s Club in Paris mitbegründete. Unterdessen kümmerte sich Aghavni darum, den Enkelkindern ihr armenisches Erbe näher zu bringen. Woche für Woche besuchte sie mit ihnen Armenischkurse in der Rue Bleue, was Valérie zu Tode langweilte.
 
Ein langsames Erwachen
Es brauchte seine Zeit, bis in Valérie der armenische Geist erwachte. Alles begann bei den Pfadfindern: Als Jugendliche trat Valérie den „Hayeri“ unter Leitung von Dr. Mezadurian bei. Später war es das ewige Gedenken an den 24. April: Jedes Jahr bestand der Vater darauf, mit der ganzen Familie den Gedenkfeierlichkeiten zum Völkermord an den Armeniern beizuwohnen.
 
Valérie erinnert sich an diesen feierlichen Tag, als sei es das „Begräbnis eines alten Onkels“. Man schickte sie unter einem Vorwand nicht zur Schule, sodass sie heimlich „an diesem Tag dem Völkermord an den Armeniern gedenken konnte“. Tatsächlich war Valérie eifersüchtig auf ihre jüdischen Freunde und verglich sich ständig mit ihnen: „Ich wollte Jüdin sein, denn als Armenierin bekam ich nicht dieselbe Anerkennung.“
 
Dann kamen die 70er-Jahre. Nach den dramatischen Ereignissen vom Mai 1968 verbreiteten sich linke Ideale an den Schulen. „Jeder war politisiert! Es gab alle möglichen Gruppierungen: die Maoisten, Zionisten, Trotzkisten, usw.“ Valéries Interesse am armenischen Erbe erwachte natürlich, als sie sich in diesen Jahren politisch ausprobierte. All die jungen armenischen Aktivisten waren der krasse Gegensatz zur älteren Generation, deren Leben verkümmerte zu einer Hülle von Erinnerungen bestehend aus Leid und Ungerechtigkeit. „Jetzt waren wir keine Opfer mehr! Wir konnten sogar drohen, Angst einjagen“, erinnert sie sich. Sie schloss sich einer Kameradschaft an, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, eine Zeitung namens Libération Arménienne herauszubringen. Dort lernte sie ihren zukünftigen Ehemann Ara Toranian kennen, einen jungen Aktivisten, der zu Beginn der 80er-Jahre bereits eine Schlüsselfigur in der armenischen Gemeinde war.
 
Das nächste Projekt war Hay Bakar, der armenische Kampf, die offizielle Zeitung der armenischen Nationalbewegung. Während ihrer Zeit tief in der gärenden politischen Szene verbesserte sie ihr Armenisch, war an der Herausgabe verschiedener Zeitungen beteiligt und heiratete im Alter von vierundzwanzig Jahren. Nach der Geburt ihres ersten Sohnes mit Namen Vasken zog sie sich allmählich aus der aktiven Szene zurück. Sie arbeitete nun für eine Reihe französischer Zeitschriften, doch ihre freiberufliche Tätigkeit für ELLE hielt sie nicht davon ab, sich wieder mit dem Thema Armenien auseinanderzusetzen: Gemeinsam mit ihrem Ehemann Ara Toranian gründete sie das monatlich erscheinende Blatt Nouvelles d’Arménie (Neuigkeiten aus Armenien).
 
Valéries Büro hoch oben in dem Gebäude, in dem die Revue des Deux Mondes (zu Deutsch: Bericht aus zwei Welten) ihren Sitz hat, ist schön und warm. Auf den Regalen stehen aneinandergereiht zahlreiche Bücher, die von Armeniern handeln und 2015 erschienen sind. Bald wird sie ihr eigenes dazustellen. Valérie reiste gemeinsam mit Staatspräsident François Hollande nach Jerewan, um an den Feierlichkeiten anlässlich des einhundertsten Jahrestages teilzunehmen. Eine Reise, die sie mit ihrer verstorbenen Großmutter versöhnen sollte. Als ob sich der Kreis schließe.
 
Diese Geschichte wurde vom Forschungsteam der Initiative 100 LIVES verifiziert.
 

Coverfoto: Jean-Luc Bertini © Flammarion

Subtitle: 
„Ich vergöttere meine Großmutter“
Story number: 
53
Author: 
Tigrane Yegavian
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