Arthur Abraham im Gespräch mit 100 LIVES

100 LIVES: Fast jede armenische Familie hat eine besondere Geschichte zu erzählen: die Geschichte ihrer Vorfahren, die den Genozid an den Armeniern überlebten. Ich denke, auch Du? 
Ja, die Eltern meines Großvaters mütterlicherseits kommen aus Kars. Mein Großvater Sargis Karagaschyan erzählte mir, wie sie dem Genozid entkommen konnten. Sie nahmen nur das Notwendigste mit, einige Kleidungsstücke und etwas zu essen. Er erzählte mir, wie sie fast ausgehungert in Ostarmenien ankamen. 
 
100 LIVES: Wie hast Du deinen Großvater in Erinnerung?
Mein Opa Sargis war kein fröhlicher Mensch. Er war eher streng und ernst. Immer wenn wir spielten, sagte er: „Passt auf, nicht dass ihr mir hier etwas kaputt macht.“ 
Aber er war ein guter Großvater und hat uns gut erzogen. Ich mochte es sehr, mit ihm Schach zu spielen. Er sagte zu uns: „Kinder, ihr seid zu faul. Ein Junge muss morgens früh aufstehen.“ Als ich später Weltmeister im Boxkampf wurde, sagte meine Oma zu ihm: „Siehst du, Sargis, und du sagtest, dein Enkel wär zu faul. Sieh, wie weit er es gebracht hat!“ 
Ich habe sie beide nach Berlin eingeladen, zu meinem Boxkampf. Sie waren sehr beeindruckt. Ich habe mich immer gut um sie gekümmert.  
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100 LIVES: Konntest Du dir damals vorstellen, dass Du eines Tages Weltmeister wirst?
Ich habe schon immer davon geträumt, Weltmeister zu werden, damit ich eine gute Zukunft habe. Aber dass ich es so weit bringen würde, das habe ich nicht erwartet. Meine Eltern haben immer dafür gesorgt, dass ich diverse Sportkurse besuche. Bis zu meinem achten Lebensjahr habe ich Athletikkurse besucht, mit zwölf Karatekurse. Später befasste ich mich ernsthaft mit Radsport, weil mein Onkel dies auch tat. Er war damals in der Sowjetunion Radsportmeister. Außerdem wollte ich unbedingt ein Fahrrad haben, aber meine Eltern waren dagegen. Wir wohnten damals in einer Gegend, wo sehr viele Autos fuhren. Alle meine Mitschüler hatten ein Fahrrad, nur ich durfte keines besitzen. So meldete ich mich für den Radsportkurs an und wurde mehrfacher Meister im Radsport in Armenien.  
 
100 LIVES: Und wie kam es, dass Du Boxer wurdest? 
Ich habe die Boxkämpfe von Mike Tyson verfolgt und das Boxen gefiel mir. Ich wollte ein genauso starker Sportler sein wie er. Als wir nach Deutschland kamen, ging ich zum Sauerland-Boxstall, stellte mich vor und sagte, dass ich Boxer werden will. Sie nahmen mich zunächst für etwa zwei Monate als Sparringpartner. Nach der Probezeit wusste ich, dass ich so nicht weiter machen wollte und sagte: „Entweder ihr wollt mich oder nicht. Trefft eine Entscheidung!“ Daraufhin bekam ich einen Vertrag und bin seit 2003 bei Sauerland.   
 
100 LIVES: Was bedeutet das Boxen für dich
Das ist mein Leben. Das bedeutet für mich alles. 
 
100 LIVES: Ist das Boxen auch eine gewisse Art zu denken?
Im Boxkampf musst Du an erster Stelle gut und schnell denken können. Denkst du nicht schnell genug, wird der Gegner es zu deinem Nachteil auszunutzen wissen. Aber natürlich ist es auch wichtig, die Boxtechnik zu beherrschen: Du musst voraussehen können, wohin sich die Hand deines Gegners bewegt, noch bevor er die Bewegung gemacht hat. 
 
100 LIVES: Viele Menschen entwickeln im Laufe ihres Lebens gewisse Prinzipien. Richtest Du Dich auch nach einem Prinzip?
Im Ring ist es besser zu sterben, als in die Knie zu gehen. Das ist mein Prinzip.
 
100 LIVES: Du bist in mehreren Filmen aufgetreten, auch mit dem bekannten deutschen Schauspieler Till Schweiger. Wie wahrscheinlich ist eine Schauspielkarriere für Dich? 
Es gab immer mal solche Angebote. Aber ich würde heute nicht von einer Schauspielkarriere reden wollen. Ich bin Sportler und stecke all meine Energie in den Sport. Alles andere danach.  
 
100 LIVES: Wie lange bleibst Du noch dem deutschen Profiboxen erhalten? 
Naja, ich bin schon 35 Jahre alt. Ich habe nicht vor, sehr lange im Kampfsport zu bleiben. Ich will ja auch mal etwas vom Leben haben. Meine ganze Zeit, acht, neun Monate im Jahr, verbringe ich mit den Boxkämpfen. Ich wohne in Hotels, esse in Hotels. Es bleibt mir dann auch kaum noch Zeit für meine Nächsten.  

100 LIVES: Du hast in Armenien internationales Recht studiert, warum?
Das Lernen fiel mir schon immer leicht, in der Schule war ich sehr gut. Meine Mutter riet mir: „Nimm den akademischen Pfad, wer weiß, ob es mit dem Sport was wird. Dann hast Du eine vernünftige Arbeit.“
 
100 LIVES: Seit vielen Jahren lebst Du in Deutschland. Fühlst Du dich nach wie vor als Armenier?
Ich bin Armenier und ich bin stolz darauf, Armenier zu sein. Ich bin in Armenien auf die Welt gekommen, bin dort groß geworden. Die armenische Denkweise ist mir eigen und in mir fließt das armenische Blut. Aber in Deutschland konnte ich mich stark weiterentwickeln.  
 
100 LIVES: Was verstehst Du unter „Armenier sein“?   
Den Eifer, die Warmherzigkeit, das Zueinanderhalten, die Freundschaft, eine starke Familie, die Liebenswürdigkeit. Das sind typisch armenische Eigenschaften. Aber in Deutschland liebe ich die Disziplin, die Ordnung und den Fleiß.

 

100 LIVES: Wie verbringst Du deine freie Zeit, die restlichen Monate im Jahr?
Ich reise. Dabei bereise ich jedes Land nur einmal, damit ich so viele Länder wie möglich sehen kann. Ein Erlebnis in Mauritius kann ich nicht vergessen: Dort war ich mit sieben Löwen spazieren, wie man mit Hunden oder Pferden spazieren geht. Ich habe sie im Wald gefüttert. Sowas habe ich in meinem Leben noch nie erlebt. Sie „winselten“ sogar, dass du sie zu einem Spaziergang mitnimmst. 
 
100 LIVES: Mauritius hat Dich also ganz besonders beeindruckt.
Ich bin nur von einem Land beeindruckt und das ist Armenien (lacht). Alle anderen sind Länder mit ihren Besonderheiten und Schönheiten. Einige Länder muss ich noch besuchen, insbesondere Brasilien, Argentinien und Japan. 
 
100 LIVES: Was muss noch in deinem Leben geschehen, damit du im Alter von 80 Jahren sagen kannst: „So habe ich mir mein Leben vorgestellt.“ 
Ich bin auch heute mit meinem Leben zufrieden. Ich habe noch keine gravierenden Fehler gemacht, um unzufrieden zu sein. Eines wünsche ich mir allerdings noch: zu heiraten und drei Söhne zu haben. Das ist für mich, außer Sport, das Allerwichtigste.  
 
 
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„Ich bin Armenier und ich bin stolz darauf, Armenier zu sein“