Mütterlicherseits ist die Familiengeschichte von Anita Vogel ein anschauliches Beispiel für das, was man heute als „konvertierte Armenier“ bezeichnet. Noch während des Völkermordes an den Armeniern im Osmanischen Reich und auch danach – oft waren die Männer bereits von den Familien getrennt und getötet worden – bot man Frauen und Kindern an, zum Islam zu konvertieren, um so der Hinrichtung zu entgehen. Einige wurden zwangskonvertiert, obwohl sie Christen bleiben wollten. Andere hingegen, darunter Vogels Familie, konvertierten nur zum Schein. Letztere nannte man „Krypto-Armenier“ oder „heimliche Armenier“, von denen manche das Christentum noch auf die eine oder andere Weise praktizieren. Die Schätzungen, wie viele heimliche oder konvertierte Armenier es gibt, gehen weit auseinander. In einigen Quellen ist von gerade einmal 30.000 die Rede, in anderen gar von fünf Millionen. Seit geraumer Zeit geben immer mehr dieser Armenier ihr wahres Selbst preis, besonders in ehemals westarmenischen Städten wie Dersim in der heute ostanatolischen Provinz Tunceli und Diyarbakir, aber auch in Hemschin, Malatya, Sivas, Van, Kayseri, Elazig und Musch.
Vogel erfuhr von der Geschichte ihrer eigenen Familie durch ihre Großmutter Sarah Bedrosian, geborene Agzarian, die zur Zeit des Völkermordes elf Jahre alt war. „Meine Großmutter sprach oft vom Völkermord, bevor sie 1999 im Alter von 94 Jahren starb.
Sie erzählte in allen schrecklichen Details, wie ihre Familie Hunger litt und einer nach dem anderen dahinsiechte.
Sie sagte, während des Völkermordes habe man die Menschen in ihrem Dorf vor die Wahl gestellt, zum Islam zu konvertieren oder zu sterben“, erinnert sich Vogel.
Von Evereg in die Bronx: eine Geschichte von Religion, Einfallsreichtum und Überleben
Sarah lebte zusammen mit ihren Eltern Agzar und Mariam Agzarian sowie ihren Geschwistern Rose, Guily und John in einem kleinen Dorf in der Zentraltürkei, unweit der Stadt Kayseri. „Früher hieß es Evereg-Fenesse, aber heute heißt es wohl Develi“, sagt Vogel. Als 1915 die Massendeportationen und -tötungen von Armeniern im ganzen Osmanischen Reich begannen, kamen türkische Soldaten in das Dorf und gaben den Bewohnern die Gelegenheit, zum Islam zu konvertieren. Während Vogels Urgroßvater Agzar sofort erkannte, dass Einwilligen die einzig richtig Entscheidung war, um dem sicheren Tod zu entgehen, kam das für ihre Urgroßmutter, eine durch und durch fromme Christin, nicht in Frage. „Meine Urgroßmutter war so religiös“, erklärt Vogel, „dass sie beim Beten ein Licht am Himmel sah.“ Mariam tat sich mit dem Gedanken an ein Konvertieren extrem schwer. Sie verlor die Selbstbeherrschung und rannte schreiend durch die Straßen des Dorfes. Agzar gelang es, sie zurück ins Haus zu bringen und ihr den Ernst der Lage klarzumachen: „Bist du verrückt? Hast du eine Ahnung, was geschehen wird, wenn wir nicht wenigstens so tun, als würden wir zum Islam konvertieren? Sie werden uns alle töten.“ So gab die Familie widerstrebend vor, muslimisch zu sein, während sie die Flucht nach Amerika plante.